Warum wir uns damit abfinden sollten, immer wieder neu anzufangen
Kennst du das? Ratgeber, die dir suggerieren, du müsstest nur deine Einstellung zu etwas ändern, dann hättest du die Lösung für dein Problem, und zwar für immer. Klingt einfach. Isses aber nicht.
Egal ob Ernährungsumstellung, Beziehungskonstrukte, Erziehungsprinzipien oder körperliche Betätigung: alles reine Einstellungssache? Einerseits klar: Wenn ich zutiefst davon überzeugt bin, dass Zucker Teufelswerk ist und ich früher oder später verfette und Diabetes kriege, fällt es mir vermutlich leicht, eine starke Abwehr, eine „Anti-Zucker“-Einstellung zu entwickeln. Ähnlich verhält es sich mit anderen Grundeinstellungen zu Lebensbereichen, in denen man immer wieder in alte, dem „Erfolg“ wenig zuträgliche Muster verfällt. Andererseits ist das das eigentliche Problem.
Die neue Einstellung ist schwächer als das alte Muster, nach dem ich funktioniere. Wo auch immer das herkommen mag, Erziehung, Gene, Sozialisation: Verhaltensmuster sind so unglaublich stark, dass (ja meist deutlich später erworbene und oft auch nicht so stabile) Überzeugungen dagegen kaum dauerhaft ankommen. Da scheitern immer wieder Beziehungen, der Jojo-Effekt fordert die Waage heraus, der Couchpotato übermannt den Marathonläufer, das besänftigt geglaubte Rotzblag tickt immer mehr aus… Man könnte meinen, alles, alles sei umsonst gewesen. Die neu erworbene Überzeugung, Einstellung tauge nichts. Also alles auf Anfang. Einstellung wankt. Und das ist das Gefährliche.
Vielleicht sollten wir unsere Einstellung zu Veränderungen ändern. Nicht glauben, dass EIN gedanklicher Kick-off das Heilmittel für alle Zeiten ist. Auch wenn uns das oftmals so verkauft wird. Der Buchhandel ist voll von Ratgebern, die genau diese Erwartung bedienen. Ein Erwartung natürlich, die auch einer gewissen Bequemlichkeit entspringt. Ach, wäre das praktisch, wenn mir jemand sagt, wie ich‘s richtig machen kann. Dann hat der mir schon einen Plan gemacht, nach dem ich mich einfach richten muss: Diätplan, Sportplan, Familienaufstellung.
Es ist viel schwieriger, sich selbst zu überlegen, was für einen selbst, dieses komplexe Individuum, richtig und machbar ist. Vor allem fordert es viel Energie, Hirnschmalz und Zeit. Und die Erkenntnis, dass wir uns immer, immer wieder um unsere Problembereiche bemühen müssen. Dass wir immer wieder von vorne anfangen müssen. Dass es normal ist, Dinge wieder schleifen zu lassen. Und genauso normal, diese wieder anpacken zu müssen.
Der Partner braucht auch nach Jahren noch Aufmerksamkeit, Nähe, Zuwendung, auch wenn alles irgendwie ok zu laufen scheint. Dass die Laufschuhe nach einem nassen, kalten Winter Schimmel im Keller angesetzt haben, ist kein Grund, nie mehr Joggen zu gehen. Nur weil ich letzte Woche gnadenlos Junk-Food in mich reingestopft habe, muss ich nicht meinen, jetzt sei eh alles egal. Bullshit. Ich muss definitiv akzeptieren, dass ich mit einigen Dingen immer, immer wieder anfangen muss. Dazu muss ich das Nachdenken, Sprechen und Handeln trainieren. Ich werde Muskelkater und Schokoladenentzug haben. Unangenehme Diskussionen mit den Kindern, Bauchschmerzen beim Blick in den Spiegel. Das ist zwar unbequem. Aber es lohnt sich.
Denn ich gestalte mein Leben selbst mit. Und am Ende kann ich wenigstens sagen: Ich hab‘s versucht – immer wieder!